Allie, Du bist in Berlin geboren, lebst aber - glaube ich - in Lüneburg. Normalerweise ist es eher umgekehrt, dass jeder von außerhalb in das lebendige Berlin zieht. Warum Du nicht?
„Ich wohne mittlerweile in Hamburg und habe lange Zeit in Lüneburg gelebt – etwa zehn Jahre wegen des Studiums. Wir sind damals aus Berlin weg nach Mecklenburg aufs Land gezogen, weil die Firma meines Vaters umzog. Dort bin ich aufgewachsen, von der Millionenstadt ins 70 Seelen-Dorf. Das war toll, aber eigentlich haben wir da nicht so richtig reingepasst; wir waren Großstädter. Der nächste Schritt für mich war Lüneburg. Dann habe ich irgendwann den Schritt in die Großstadt Hamburg gewagt. Ich merke aber, ich bin tatsächlich nicht so der große Stadtmensch. Ich brauche immer einen Rückzugsort auf dem Land, und den habe ich auch zum Glück, sonst würde ich durchdrehen. Im Herzen bin ich also urechte Berlinerin, die gerne auch auf dem Land ist.“
Du hast in Lüneburg Kulturwissenschaften studiert. Deine Masterarbeit handelt von den Singer-Songwritern im 21. Jahrhundert. Kannst Du etwas mehr dazu sagen und zu welchen Erkenntnissen Du gekommen bist?
„Im Genre der Singer-Songwriter und Liedermacher kann man so viel entdecken. Die Musik ist gesellschaftskritisch und erzählt tolle Geschichten, die einen zum Nachdenken anregen. Als ich auf der Uni war, habe ich selbst auf vielen Singer-Songwriter-Slams gespielt und meine ersten Erfahrungen auf der Bühne gesammelt, mir ein Publikum erspielt und die ersten Kontakte zu Musikern geknüpft. Diese Slams (ähnlich den Poetry-Slams – der Verf.) fand ich megaspannend und wollte dann untersuchen, ob sich dort der Urtypus vom 60er-Jahre-Singer-Songwriter wiederfindet – sprich das Konzept: ein Song, ein Instrument und kein Chichi. Gibt es da junge Leute, die ebenfalls einen politischen Geist wiedererwecken? Das war leider gar nicht so, weil ich genau zu der Zeit geforscht hatte, als es politisch total langweilig war. Es passierte nichts wirklich Schlimmes, was ja gut war. Wenn ich jetzt forschen würde, wäre das anderes. Mittlerweile würde man auf den Singer-Songwriter-Slam-Bühnen viel mehr politische Lieder finden.“
War da erst Deine Masterarbeit oder war da zuerst die Singer Songwriterin Miss Allie?
„Die Singer-Songwriterin Miss Allie. Ich bin 2011 nach Australien gegangen und habe mich dort in der Straßenmusik selbst gefunden, also das Selbstbewusstsein, mich überhaupt auf eine Bühne zu wagen. Damals fing ich an, meine ersten beiden Alben zu schreiben. Als ich zurückkam, habe ich mit dem Master angefangen. Und während des Studiums bin ich auf jede Bühne, die ich kriegen konnte, geklettert und hab gespielt: auf Hochzeiten, Beerdigungen, Slams und Stadtfesten, auf der Straße und in jedem Café. Ich schrieb parallel Lieder und wusste, das ist der Weg, den ich verfolgen will. Nur wusste ich noch nicht, ob ich mich zu hundert Prozent selbstständig machen möchte. Im Masterarbeitsprozess stellte ich aber fest: Das ist genau das, was ich will.“
Dein Vater macht Musik in der Mittelalterfolk-Band Hinterhof. Du bist folglich in einem musikalischen Haushalt aufgewachsen und früh mit Musik in Kontakt gekommen, korrekt?
„Ja, mein Papa hat uns immer schon Gitarre vorgespielt und uns was vorgesungen. Auch meine Mama singt sehr gerne und spielt ein bisschen Saxophon. Mein Bruder hat auch was abgekriegt. Er spielt Gitarre, Ukulele und singt auch total toll, aber auch nur hobbymäßig.
Mein Vater wäre bestimmt gerne Profimusiker gewonnen und hätte was mit Liedermacherei gemacht. Aber er hatte nun mal Familie. Jetzt, wo wir alle aus dem Haus sind, fängt er an, sich komplett auszuleben. Er hat eine Mittelalter-Band, ist im Chor, hat eine A-Cappella-Truppe und hatte zwischenzeitlich eine Coverband. Er dreht komplett frei. (lacht) Das ist voll schön, zu sehen. Immer, wenn ich ihn besuche, zeigt er mir wieder etwas. Etwa seine achtseitige Laute. Dann sitzen wir öfter da und machen zusammen Musik. Es gibt also maximales Verständnis von meiner Familie aus für das, was ich jetzt mache.“
Deine Eltern waren demnach musikalische Vorbilder für Dich. Welche anderen Musiker:innen haben Dich in Deiner Jugend beeinflusst?
„Vaters Musikgeschmack hat mich schon sehr beeinflusst. Er hörte die ganzen ostdeutschen Rockbands: Pankow, Die Zöllner, Silly lief bei uns auch rauf und runter, Gundermann (der Liedermacher Gerhard Gundermann – der Verf.) auch. So habe ich die Liebe zu dieser Art von Musik entdeckt. In deren Texten steckte so viel drin. Die durften in der DDR ja nicht offenkundig ihre Meinung kundtun und mussten das immer ein bisschen versteckt machen. Das fand ich cool. Wir haben auch Feist gehört, die jetzt Die Feisten heißen. Die sind auch einfach megalustig. Mein Bruder hat auch einen stark ausgeprägten Musikgeschmack - von Die Ärzte bis zu System Of A Down. Irgendwann entdeckten wir Tenacious D. Als ich ganz jung war, fand ich auch Mariah Carey und Westlife toll – Teenie-Kram halt. Um mich herum waren all diese ganzen verschiedenen Musikgeschmäcker, die sich dann so zusammenvermengt haben.“
Wann war für Dich klar, dass Du singen und wann, dass Du Gitarre spielen willst?
„Als ich neun oder zehn war, habe ich an dem Keyboard einer Freundin gesessen und wusste gar nicht, was ich da machen soll, habe aber einfach drauf rumgedrückt. Ich kann mich noch sehr gut dran erinnern, weil das für mich der Moment war, wo ich wusste: Das klingt so schön, ich will das lernen. Ich sagte dann zu meinen Eltern, wir bräuchten ein Keyboard, und die haben mir eins gekauft. Ich bekam Unterricht, fand den aber ganz schrecklich und bin nie gerne hingegangen. Mit etwa 15 bekam ich ein Klavier. Auch der Unterricht war nie cool. Ich mochte es lieber, frei zu spielen und schrieb dann die ersten Songs auf dem Klavier. Ein Klavier kann man aber nirgendwo mit hinnehmen. Also schnappte ich mir Papas Gitarre. Mein Vater zeigte mir die ersten drei Griffe. Es ging mit ‚Knocking On Heaven‘s Door‘ los. Danach nutzte ich YouTube und habe alles Mögliche nachgespielt.“
Du trittst nicht nur im Rahmen eigener Konzerte auf, sondern auch bei Kabarett-, Kleinkunst- und Comedy-Events. Wie kam es dazu?
„Das war überhaupt nicht geplant. Ich bin ein eher humorvolles, derbes Wesen, klettere auf eine Bühne und mache ein paar Sprüche. Ich weiß selbst nicht, was ich da eigentlich rede. Aber die Leute liegen am Boden. Meine Songtexte sind ja teilweise lustig, aber auch zunehmend balladesk, tiefgründig und sozialkritisch wie politisch. Mir gefällt es, wenn die Leute wirklich zuhören. Das erreiche ich dadurch, dass ich einfach mal einen kessen Spruch raushaue. So landete ich irgendwann auf einer Comedy-Bühne. Ich habe mich auch die ganze Zeit gefragt, was ich da soll. Ich musste ja jetzt lustig sein, bin aber doch Musikerin. Ich wusste nicht, was die von mir wollten. Dann meinten sie: ‚Du hast acht Minuten und darfst einen Song spielen.‘ Dabei ging der Song nur zweieinhalb Minuten. Was sollte ich den Rest der Zeit machen? Und dann habe ich halt irgendwas geplappert. Das ging dann viral und alle meinten: ‚Die ist sehr lustig. Die laden wir jetzt öfter ein.‘ Mir war total wichtig, immer wieder zu betonen, dass ich Musikerin bin, weil dieses ‚Du musst jetzt auf Knopfdruck lustig sein‘ fühlt sich ganz falsch für mich an. Das Comedy-Publikum wartet natürlich auf die nächste Pointe; das sind die gewohnt. Bei mir gibt es aber lange auch mal keine. Ich will mich da auch nicht hinprügeln lassen. Ich fühle mich in der Musik viel mehr zu Hause als in der Comedy - auch wenn es Spaß macht, in der Comedy Gast zu sein. Letztlich ist es ein großes Geschenk, dass meine Musik in so viele verschiedene Bereiche reinpasst. Dadurch habe ich noch mal mehr Bühnen, auf denen ich spielen kann - und das ist ja das, was mir am meisten Spaß macht.“
Gibt es einen Unterschied zwischen einem regulären Konzert von Dir und einem Comedyshowauftritt? Oder ist Comedy auch immer auch ein Teil Deiner Show?
„Ja, den gibt es. Beim Comedy-Auftritt nimmt man die Songs, die ballern und die genügend Pointen haben, damit die Leute auf ihre Kosten kommen und unterhalten werden. Bei meinen Konzerten baue ich eine viel längere Geschichte ein und zeige viel mehr Facetten von mir. Auch da lachen die Leute sich schlapp, aber sie weinen auch, weil es auch um Tod und ganz ehrliche Gefühle, um Auf und Ab und um Depressionen geht. Und dann geht's wieder lustig und rasant weiter. Ich mag es, dass all diese Gefühle sein dürfen, weil die nun mal alle auch zum Leben dazugehören. Ein Konzert von mir ist rauf, runter, rauf, runter - aber mit ganz viel Wärme. Ich will auch nicht, dass die Leute bei meinen Konzerten mich angucken wie ein Tier im Zoo. Sie sollen mit mir interagieren. Wir gestalten den Abend zusammen. Das geht nur zusammen. Das ist mir total wichtig.“
Wenn Du ein Album wie „Paradiesvogel“ schreibst, schreibst Du dann Songs im Hinblick auf Deine regulären Konzerte und im Hinblick auf Comedy? Das sind ja zwei Kategorien Songs.
„Ich mag es nicht, in Kategorien zu denken. Ich finde es auch bescheuert, dass es Genregrenzen gibt. Ich bin gerne ein Hybrid, der Grenzen sprengt. Im Pop-Bereich sagen sie, ich sei zu lustig für Pop, und in der Comedy sagen sie, ich sei nicht lustig genug für Comedy.
Meine Songs entstehen hauptsächlich dadurch, dass mir einfach das Leben passiert. Sie handeln von Sachen, die mich wahnsinnig wütend machen und aufregen oder wahnsinnig traurig machen. Die Songs sind meine Art, mit alldem, das mich emotional anfasst, umzugehen. Sie sind Extrakte aus krassen Gefühlen, die ich hatte, oder Geschichten, die ich nicht verarbeiten konnte.
Ich weiß natürlich, wenn ich ein neues Album mache, dass es für die Promo gut wäre, nochmal in die ‚Ladies Night‘ beim WDR zu kommen. Das habe ich natürlich im Hinterkopf. Dann schaue ich, dass einige Songs in eine bestimmte Richtung gehen. Aber die meisten flutschen tatsächlich einfach so aus mir raus. Einige davon würde ich aber nicht auf der Bühne spielen, weil sie viel zu traurig sind.“
Die Daten Deiner Paradiesvogel-Tour liegen meist am Wochenende. Das legt den Schluss nahe, Du gehst einer regulären Arbeit nach und lebst nicht allein von der Musik?
„Tatsächlich ist die Musik schon seit sieben Jahren mein Fulltime-Job. Wir haben diese Tour aber bewusst so gebaut. Sie ist ein Learning aus den letzten Jahren. Es wird der erste gesunde Tour-Turnus sein. Ich habe erkannt, dass ich nicht mehr als neun Konzerte im Monat spielen kann, ohne krank zu werden. Und auch nicht mehr als drei am Stück. So habe ich zwischendurch Zeit, mich zu erden, zu Hause anzukommen, meinen Sport zu machen und meine Leute zu sehen. Dadurch bleibe ich mental und körperlich fit. In der Zeit, die ich zu Hause verbringe, tue ich nicht nichts. Da gibt es E-Mails zu beantworten, Abrechnungen und Buchhaltung zu machen, neue Songs zu schreiben. Das würde ich alles gar nicht schaffen, wenn ich noch einen anderen Job hätte.“
Dein neues Album trägt den Titel „Paradiesvogel“. Ist das eine gute Umschreibung für Dich?
„So wie ich den Begriff verstehe: auf jeden Fall. Ich habe schon von mehreren Leuten gehört, dass Paradiesvogel ein abgelutschtes Wort sei. Das finde ich gar nicht. Einige sagten auch, das benutzt man eher für queere Menschen, die völlig paradiesisch daherkommen. Das finde ich auch nicht. Der Song ‚Paradiesvögel‘ von Silly erklärt das ganz schön. Ich sehe mich als Paradiesvogel, weil ich ein sehr freiheitsliebender Mensch bin und viel Freiraum brauche. Ich lasse mich nicht gerne einsperren oder mir sagen, wie ich was zu machen habe. Ich möchte auch nicht in eine Schublade gesteckt werden. Deswegen flattere ich wie so ein kleiner Paradiesvogel von der Comedy- zur Kabarett- zur Konzertbühne. Ich fühle mich so am wohlsten. Mein Manager meint immer: ‚Ja, mein kleiner Paradiesvogel, jetzt bist du schon wieder hier bei der Comedy. Eigentlich passt du gar nicht hier rein, aber du setzt so einen schönen Farbtupfer dazu.‘ Da war es total logisch, das Album so zu nennen.“
421 Fans haben die Finanzierung Deines Albums via Crowdfunding unterstützt. Das klingt nach einem vollen Erfolg, oder?
„Auf jeden Fall. Das gibt mir die maximale Freiheit. Ich muss mich nicht mit irgendeinem Label rumschlagen, wo die Mühlen langsam laufen. Ich kann schnell und völlig frei agieren. Und ich komme so viel mehr mit meinen Fans ins Gespräch. Wir wachsen zusammen und machen dieses Projekt gemeinsam. Dadurch haben Musiker die Chance, ihre Karriere nachhaltig aufzubauen, ohne sich von irgendwelchen Musikindustriestrukturen abhängig zu machen. Das bedeutet aber auch viel Arbeit, sehr viel Arbeit, die auch nervenaufreibend ist.“
Welchen Tipp kannst Du Newcomern geben, die auch unabhängig bleiben oder sein wollen? Wie schafft man es, sich eine Fanbase - live wie auf Social Media - aufzubauen, die einen finanziert?
„Ich habe angefangen, Musik zu machen, als Social Media noch gar nicht so in war. Ich dachte mir immer: Wenn ich gehört werden will, stell ich mich auf die Straße und mache Musik. Da gab es das noch nicht, dass man zu Hause sitzt, ein Video macht, hochlädt und dadurch bekannt wird. Man musste rausgehen und Erfahrungen sammeln. Ich habe einfach ganz viele Leute angequatscht.
Mein Tipp für jemanden, der das hauptberuflich machen will: Du musst wirklich dafür brennen, sonst gehst du daran zugrunde. Du musst richtig Bock draufhaben und gleichzeitig aufpassen, nicht zu verbrennen. Wie schnell hast du einen Burnout. Mein Weg war wirklich: spielen, spielen, spielen, spielen, spielen, alle Leute einsammeln, Newsletter schreiben und schöne Flyer oder Sticker gestalten, die sie mit nach Hause nehmen können. Ich schreibe immer noch wahnsinnig viel mit meinen Fans, weil das für mich ein Gemeinschaftsprojekt ist. Ohne meine Fans wäre ich nichts, und ohne mich gäbe es diese Fans für mich nicht. Es ist ein Geben und ein Nehmen. Man muss pfiffig sein und darf nicht erwarten, dass sich der Erfolg einstellt, sobald man ein Video hochlädt. Das ist Bullshit.“
Vor drei Jahren hast Du hier in der Alten Schmelz in St. Ingbert den Jurypreis der Sankt Ingberter Pfanne gewonnen. Wie war das?
„Ich kann mich noch sehr gut dran erinnern, weil mein Liedermacher-Widersacher FALK auch dabei war. Wir haben eine kleine öffentliche Fehde miteinander. (grinst) Es war eine total coole und super sweete Veranstaltung. Backstage traf ich tolle Kollegen. Wir haben die ganze Zeit geschnackt und uns gefreut, uns zu sehen. Auch das Publikum war einfach sweet. Und die Location war total cool und toll beleuchtet.
Ich kann mich auch noch sehr gut an mein letztes Konzert in der Saarbrücker Garage erinnern – auch eine coole Location, wie ich sie so noch irgendwo anders gesehen habe. Ich freue mich sehr drauf, wieder dort zu spielen. Die Stimmung war letztes Mal sehr gut. Mal sehen, wie es auf dieser Tour sein wird.“
Text: Kai Florian Becker Bild: Christian Verch